| Verkündigung über den Hirten 
Seht auf, ihr Männer. Männer dort am Feuer,die ihr den grenzenlosen Himmel kennt,
 Sterndeuter, hierher! Seht, ich bin ein neuer
 steigender Stern. Mein ganzes Wesen brennt
 und strahlt so stark und ist so ungeheuer
 voll Licht, daß mir das tiefe Firmament
 nicht mehr genügt. Laßt meinen Glanz hinein
 in euer Dasein - Oh, die dunklen Blicke,
 die dunklen Herzen, nächtige Geschicke
 die euch erfüllen. Hirten, wie allein
 bin ich in euch. Auf einmal wird mir Raum.
 Stauntet ihr nich: der große Brotfruchtbaum
 warf einen Schatten. Ja, das kam von mir.
 Ihr Unerschrockenen, o wüßtet ihr,
 wie jetzt auf eurem schauenden Gesichte
 die Zukunft scheint. In diesem starken Lichte
 wird viel geschehen. Euch vertrau ichs, denn
 ihr seid verschwiegen; euch Gradgläubigen
 redet hier alles. Glut und Regen spricht,
 der Vögel Zug, der Wind und was ihr seid,
 keins überwiegt und wächst zur Eitelkeit
 sich mästend an. Ihr haltet nicht
 die Dinge auf im Zwischenraum der Brust
 um sie zu quälen. So wie seine Lust
 durch einen Engel strömt, so treibt durch euch
 das Irdische. Und wenn ein Dorngesträuch
 aufflammte plötzlich, dürfte noch aus ihm
 der Ewige euch rufen, Cherubim,
 wenn sie geruhten neben eurer Herde
 einherzuschreiten, wunderten euch nicht:
 ihr stürztet euch auf euer Angesicht,
 betetet an und nenntet dies die Erde.
 Doch dieses war. Nun soll ein Neues sein,
 von dem der Erdkreis ringender sich weitet.
 Was ist ein Dörnicht uns: Gott fühlt sich ein
 in einer Jungfrau Schooß. Ich bin der Schein
 von ihrer Innigkeit, der euch geleitet.
 Rainer Maria Rilke 
(1875-1926) 
Aus: Das Marien-Leben
 |